Abschied 2016 (Foto: Welz, Klassik Stiftung Weimar)

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Aktuelle Einträge

  • 06. August 2018 — Immer wach – die Universitäts- und Landesbibliothek Darmstadt

    ULB Darmstadt (neues Zentralgebäude)

    Die Öffnungszeiten der Universitäts- und Landesbibliothek Darmstadt (ULB) kann man sich leicht merken: Immer. Jedenfalls in sechs Monaten des Jahres. Da gibt es keine Schließzeit, auch nicht an Sonn- und Feiertagen. In den anderen sechs Monaten schon: Da ist um 1.00 Uhr Schluss mit Lesen. Das hängt mit den Prüfungs- und Examensvorbereitungszeiten zusammen. Aber jetzt, im August, kann man um 4.00 Uhr morgens in der Bibliothek schon mal 50 unermüdliche Leser an den insgesamt 850 Leseplätzen antreffen.

    Ungewöhnlich: Man darf auch Wasserflaschen, Mäntel und Taschen (und in den Taschen vielleicht ein Kopfkissen?) mit in die Lesebereiche nehmen – im Vertrauen auf die metallenen Sicherheitsstreifen, mit denen die Bücher ausgerüstet sind und die bei dem Versuch einer Entführung manchmal Alarm auslösen. Man kann aber um Mitternacht auch ganz legal ein Buch ausleihen, weil es Selbstverbuchungsautomaten gibt.

    Die Bibliothek ist so gut besucht, dass das Haus gelegentlich wegen Überfüllung geschlossen werden muss. Aber nicht immer sitzen alle Leser an den Plätzen, die sie mit ihren persönlichen Unterlagen belegt haben. Manchmal geht es zu, wie am Strand: Erst mal wird ein großes Handtuch ausgebreitet, dann geht man in Ruhe ein Eis essen. In Darmstadt und an anderen Bibliotheken wurden daher Pausenscheiben eingeführt. Sie sehen aus wie Parkscheiben und funktionieren auch so. Wer eine Pausenscheibe aufstellt, wenn er den Platz verlässt, ist für eine kleine Weile sicher: »Die Pausenzeit beträgt zwischen 12:00 Uhr und 14:00 Uhr 60 Minuten, zu anderen Zeiten 30 Minuten.« Ist die Frist abgelaufen, muss man damit rechnen, dass ein anderer Leser die eigenen Sachen beiseiteschieben darf und sich am Leseplatz einrichtet.

    Die Anmeldung als Leser ist bemerkenswert einfach. Ausleihberechtigt sind alle Personen ab 15 Jahren, die in Deutschland für die Dauer von mindestens drei Monaten wohnen, arbeiten oder studieren. Externe Nutzer brauchen nur ihren Personalausweis und ein Lichtbild vorzulegen und werden ohne weitere Gebühren zugelassen. Dann können sie auf die etwa 1 Million Bände im Freihandbereich direkt zugreifen oder Bestellungen auf 1,4 Millionen Bände im geschlossenen Magazin abgeben. Insgesamt werden im Bibliothekssystem mehr als 4 Mio. Bücher, Zeitschriften und elektronische Ressourcen angeboten. Überall im Haus sind hochwertige Auflichtscanner aufgestellt, an denen man Dokumente oder Teile von Publikationen selbst kopieren und auf einem USB-Stick speichern kann. Das kostet nichts.

    Das Gebäude in der Magdalenenstrasse 8, die ULB Stadtmitte, wurde entworfen vom Architekturbüro Bär, Stadelmann und Stöcker aus Nürnberg und 2013 bezogen. Im selben Jahr wurde – eine logistische Meisterleistung – auch auf dem Campus Lichtwiese eine neue Bibliothek eröffnet, in der die Bestände von zehn Institutsbibliotheken zusammengeführt wurden. Das vom Frankfurter Architekturbüro Ferdinand Heide errichtete Campus-Gebäude mit 300 Leseplätzen ist architektonisch vielleicht noch gelungener als das zentrale Bauwerk, das jedoch alle Bibliotheksfunktionen übersichtlich darbietet.

    Die ULB hat eine lange Vorgeschichte als Privatbibliothek der hessischen Landgrafen und feierte im vergangenen Jahr ihr 450jähriges Jubiläum. Sie wurde aber erst 1817 für das Darmstädter Publikum geöffnet, deutlich später als andere Fürstenbibliotheken der Zeit. Vor dem Zweiten Weltkrieg zählte sie zu den größten und bedeutendsten Landesbibliotheken in Deutschland. Nach schweren Kriegsverlusten (400.000 von 720.000 Bände) wurde sie 1948 mit der Bibliothek der Technischen Hochschule vereinigt und ist heute eine zentrale Einrichtung der Technischen Universität Darmstadt.

    Seit einem Dreivierteljahr leitet Thomas Stäcker (früher: Wolfenbüttel) die Bibliothek. Er hat viele Pläne für ein Haus, das in den letzten Jahren darauf konzentriert war, sich räumlich völlig neu zu organisieren. Das betrifft Themen wie Open Access (auch im Hinblick auf die dauerhafte Bereitstellung), Forschungsdaten, digitale Angebote für Studierende (e-Learning, Semesterapparate), Katalogkonversion (die Bibliotheksbestände vor 1986 sind noch nicht im OPAC zu finden) sowie Erhaltung, Vermehrung und Sichtbarkeit der sehr beachtenswerten historischen Buchbestände. Drittmittelprojekte sollen ausgebaut und vielleicht eine eigene Organisationseinheit »Forschung und Entwicklung« nach dem Vorbild der Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen eingerichtet werden.

    https:/​/​www.ulb.tu-darmstadt.de/​service/​start/​index.de.jsp

    Michael Knoche

  • 30. Juli 2018 — 15 Jahre mit Freunden – die Gesellschaft Anna Amalia Bibliothek

    Der aktuelle GAAB-Vorstand mit  (von links) Petra Seelig, Dr. Annette Seemann, Wolfgang Haak, Maria Socolowsky

    Wenn die Gesellschaft Anna Amalia Bibliothek e. V. in diesem Jahr ihr 15jähriges Bestehen begeht, kann man sich mit Recht fragen, warum wird eigentlich nicht schon das 25. Gründungsjahr gefeiert? Wäre ein Freundeskreis für die Herzogin Anna Amalia Bibliothek nicht etwa schon kurz nach der Wende dringend erforderlich gewesen?

    In der Tat hätte Herzogin Anna Amalia Bibliothek schon 1993 die Unterstützung von engagierten Privatleuten dringend gebraucht, ideell und materiell. Es war das Jahr, in dem der japanische Tenno die Bibliothek besuchte, die ersten Computer die Buchbearbeitung erleichterten, das erste Projekt der Deutschen Forschungsgemeinschaft (Katalogisierung der mittelalterlichen lateinischen Handschriften) anlief, die Expressionismus-Sammlung Rothe angeschafft, eine Ausstellung über Bibliothekszensur zur Zeit der DDR gezeigt (»Der rote Punkt«) und Schülerseminare in der Faust-Sammlung durchgeführt wurden. Für die Maßnahmen der Öffentlichkeitsarbeit, für wissenschaftliche Projekte oder für die Erwerbung wäre das Engagement von Privatleuten sehr willkommen gewesen.

    Dass die Gründung damals nicht zustande kam, lag daran, dass die Leitung der Stiftung Weimarer Klassik eine andere Position vertrat. Man hegte die Befürchtung, Freundeskreise für einzelne Häuser der Stiftung (Bibliothek, Goethe- und Schiller-Archiv etc.) würden den Zusammenhalt der Stiftung gefährden. Daher sollte ein Freundeskreis für die ganze Stiftung angestrebt werden. Ein solcher kam aber nie zustande. Erst als Hellmut Seemann 2001 die Stiftungsleitung übernahm, wurde diese Selbstblockade aufgelöst. Heute gibt es in der Klassik Stiftung sieben Freundeskreise. Sie ermöglichen allen Interessierten, Anteil zu nehmen und mitzuhelfen, das kulturelle Erbe Weimars für die Zukunft zu erhalten.

    Die Unterstützung der neuen Stiftungsleitung bei der Gründung der Gesellschaft Anna Amalia Bibliothek im Frühjahr 2003 ging so weit, dass der Vorschlag für den Namen des neuen Vereins von Hellmut Seemann selbst kam. Er sagte, es würden engagierte Bürger gesucht, die sich für die Realisierung der der Ziele der Bibliothek einsetzten. Insofern sei es folgerichtig, wenn sich der Verein einen Namen gäbe, der das Wort »Herzogin« im Bibliotheksnamen durch das Wort »Gesellschaft« ersetze. Das fand im Gründungsvorstand am 15. Mai 2003 ebenso Beifall wie die Bereitschaft von Annette Seemann, die Amtspflichten der Vorsitzenden zu übernehmen.

    Annette Seemann hat dazu in einem Interview rückblickend gesagt: »Ich habe schon damals fast täglich in der Herzogin Anna Amalia Bibliothek gearbeitet. Dass ich dann sogar den Vorsitz übernommen habe, war ein ziemlicher Zufall, zumal ich bis dahin außer in einem Segelclub noch nie Mitglied in irgendeinem Verein war. Diesen Verein zu unterstützen entsprach aber meiner vollkommenen Überzeugung, dass man für diese Bibliothek etwas tun muss.« Heute leitet sie die Geschicke des Freundeskreises seit 15 Jahren.

    In der Pressemitteilung zur ersten Mitgliederversammlung im Herbst 2003 heißt es zu den Aufgaben der neuen Gesellschaft: Die »Bibliothek steht vor großen Aufgaben: Der über Jahrzehnte vernachlässigte unvergleichliche Buchbestand ist nur zu retten, wenn neben die öffentlichen Zuwendungen eine breite private Unterstützung tritt. Auch für den Erwerb kulturhistorisch bedeutender Objekte und die Durchführung wissenschaftlicher und kultureller Veranstaltungen ist die Herzogin Anna Amalia Bibliothek auf mäzenatische Hilfe angewiesen. Zum Jahresende 2004 ist der Bezug des Erweiterungsgebäudes im Herzen Weimars geplant. Anschließend soll das historische Bibliotheksgebäude mit dem berühmten Rokokosaal saniert werden. Auch bei der Suche nach Geldgebern für dieses große Vorhaben will der Verein Hilfestellung leisten.«

    Kurz darauf aber kam alles ganz anders: Der unvergleichliche Buchbestand ist am 2. September 2004 zum Teil in Flammen aufgegangen. Man darf sich gar nicht vorstellen, wenn es den Verein in dieser Ausnahmesituation nicht schon gegeben hätte. Wer hätte der Bibliothek sonst mit aktiver Hilfe, Organisationsstruktur und Vereinskonto zur Seite stehen können? Die Spendengelder mussten ja nicht nur verbucht werden, sondern die Geber erwarteten auch einen Dank und eine Information über den Stand der Arbeiten. Auf Veranstaltungen, Presseterminen und speziellen Benefizaktionen musste berichtet und um weitere Mittel geworben werden. Schon nach zwei Monaten hatte die Spendensumme, die allein bei der GAAB eingegangen war, die Millionengrenze überschritten. In all diesen Dingen hat der Vorstand – dazu gehörten auch Eberhard Neumeyer, Joachim Rieck und Jörg Teschner – die Bibliothek entscheidend unterstützt.

    Das Aushängeschild und vielgeliebte Schmuckstück des Vereins ist die Zeitschrift Supralibros, deren 21. Heft gerade erschienen ist. Aktuell steht die Organisation und Finanzierung eines neuen Schülerseminars von Weimarer Schülern in der Wolfenbütteler Herzog August Bibliothek bevor. Auch eine neue Spendenaktion ist geplant. Sie wird sich auf die Visualisierung des Historischen Bibliotheksgebäudes anhand eines Architekturmodells beziehen.

    Neue Freunde sind jederzeit willkommen. Der Jahresbeitrag beläuft sich auf 40 € und bringt eine ganze Reihe Vergünstigungen bei einem Besuch in Weimar sowie eine enge Verbindung zur Bibliothek mit sich. Aber ein Vereinsbeitritt ist in erster Linie ein mäzenatischer Akt. Kein Kulturinstitut kann heute blühen ohne einen Freundeskreis. Schrecklich die Zeit, in der es die Freunde nicht gab!

    www.gaab-weimar.de

    Michael Knoche

  • 23. Juli 2018 — Trippelschritte in die richtige Richtung – Neues zur Erhaltung des schriftlichen Kulturguts in Deutschland

    Beschädigte Bücher der Herzogin Anna Amalia Bibliothek Foto: Constantin Beyer © Klassik Stiftung Weimar

    Der Zustand der kulturellen Überlieferung in deutschen Bibliotheken, Archiven und Museen gibt schon lange Anlass zur Sorge. In den Bibliotheken zerbröselt ein Teil der Bücher, wenn man sie benutzen will, weil ihre Papiere Holzschliff mit bestimmten säurebildenden Substanzen enthalten. Ein anderer Teil ist nicht mehr zu handhaben, weil gebrochene Buchrücken und aufgelöste Bindungen, ein- und ausgerissene, abgegriffene oder sonst beeinträchtigte Seiten die Lesbarkeit behindern. Ungenügende Lagerbedingungen kommen zu den materialbedingten Zerfallsprozessen und Benutzungsschäden hinzu. Wegen unzureichender Ressourcen sind wichtige Bestände unbenutzbar und der Forschung entzogen. Die Gefahr, dass einzelne Bibliotheken etwa säurehaltige Zeitungen und andere beschädigte Bestände gleich ganz entsorgen, ist sehr real.

    Die Einsicht, dass es so nicht weitergehen kann, ist auch in der Politik angekommen. So findet sich im Koalitionsvertrag der Bundesregierung 2018 dazu eine Absichtserklärung: »Wir setzen die Programme zum Erhalt des schriftlichen Kulturgutes fort. Unser kulturelles Gedächtnis muss im wahrsten Sinne des Wortes vor dem Zerfall gerettet werden.« Klingt etwas wolkig, aber der Satz hilft, die Aktivitäten der zuständigen Fachministerin auf diesem Feld zu legitimieren.

    Spätestens seit 2015 kennen nicht mehr nur die Experten, sondern auch die Öffentlichkeit und die politischen Akteure die Aufgabenfelder zur Sicherung des schriftlichen Kulturguts sehr genau. Denn mit den »Bundesweiten Handlungsempfehlungen« liegt eine umfassende Bilanz zu Schäden und Gefahren für die schriftliche Überlieferung in Archiven und Bibliotheken Deutschlands vor. Gleichzeitig beschreibt das sparten- und länderübergreifende Gesamtkonzept in aller Deutlichkeit, welche Maßnahmen Bund und Länder ergreifen sollten.

    Der Bund, das heißt der »Beauftragte für Kultur und Medien beim Bundeskanzleramt« (BKM), hat zusammen mit der Kulturstiftung der Länder vor acht Jahren die Initiative ergriffen. Seither konnte die neu eingerichtete kleine, aber taff operierende »Koordinierungsstelle für die Erhaltung des schriftlichen Kulturguts« (KEK) mehr als 250 Modellprojekte zum Originalerhalt fördern. Für dieses Programm zugunsten der Archive und Bibliotheken wurden über die Jahre hinweg 3,3 Mio. Euro ausgezahlt.

    Das Geld hat den Bedarf bei weitem nicht decken können. Denn der Mehrbedarf über das hinaus, was durch die öffentlichen Haushalte finanzierbar ist, beträgt pro Jahr allein bei den Bibliotheken 15 Mio. € und bei den Archiven 37 Mio. €. Staatsministerin Monika Grütters (BKM) hat 2017 auf diese offenkundige Schere zwischen Ist und Soll reagiert und noch einmal 1 Mio. € zusätzlich freigemacht, damit in Archiven und Bibliotheken Akten und Bücher leichter entsäuert, gereinigt und schutzverpackt werden konnten. Es geht in diesem Sonderprogramm nicht um Modellprojekte oder Einzelrestaurierung, sondern nur um Mengenverfahren.

    In diesen Tagen erreicht uns die erfreuliche Nachricht, dass dieses Sonderprogramm um weitere 1,5 Million Euro aufgestockt wird. Nun stehen von Seiten des Bundes insgesamt 2,5 Millionen Fördermittel zur Verfügung. Da die Bundesmittel an eine Kofinanzierung durch ein Bundesland oder andere Unterhaltsträger von 50 Prozent gebunden sind, können 2018 insgesamt 5 Millionen Euro zusätzlich in Mengenverfahren für den Originalerhalt investiert werden.

    Der Wermutstropfen für die Einrichtungen besteht darin, dass auf Grund der verzögerten Regierungsbildung die zusätzlichen Finanzmittel erst Ende Juni freigegeben werden konnten, aber bis Jahresende schon ausgegeben sein sollen. Das heißt, in diesen Tagen, wo die halbe Nation Urlaub macht, werden in den Bibliotheken und Archiven Anträge geschrieben und in den Ländern, Kommunen, Kirchen oder Stiftungen Mittel zur Komplementärfinanzierung gesucht. Die Gelder sind zur Jahresmitte normalerweise längst verplant. Anmeldeschluss ist Freitag, der 27. Juli.

    Anschließend beginnt das Begutachtungsverfahren, und im September ist mit den Bewilligungen zu rechnen. Dann bringen die Einrichtungen die Ausschreibungen auf dem kleinen Markt der kommerziellen Dienstleister auf den Weg, schließlich wird ein Auftrag erteilt und mit den Arbeiten begonnen. (Falls die überforderten Firmen überhaupt in der Lage sind, Angebote abzugeben.) Auf Seiten der Bibliotheken müssen gleichzeitig Qualitätssicherungsverfahren laufen und z.B. die Logistik der Magazine angepasst sowie Dokumentationsaufgaben im Hinblick auf die behandelten Bücher erledigt werden. Aber im Dezember soll schon Vollzug gemeldet werden. Ein verrücktes System mit Stress auf allen Seiten, aber angeblich erlaubt das Haushaltsrecht keine bessere Planung und überjährige Ausgabe der Mittel.

    Das Verfahren zur Ausreichung der Mittel ist suboptimal. Aber der erstmals spürbare Wille auf allen Ebenen, auf dem Weg der Kulturguterhaltung endlich weiterzukommen, ist ein gutes Zeichen. Dabei erweist sich, dass die neu verfügbaren BKM-Sondermittel in einigen Bundesländern eigene Anstrengungen auslösen oder befördern. Aber das Sonderprogramm muss jetzt in ein robustes Förderprogramm verwandelt werden, um das schriftliche Kulturgut in länderübergreifender Zusammenarbeit nachhaltig zu sichern. Die Originalerhaltung, die in Deutschland auch im Vergleich zu anderen europäischen Staaten im Rückstand ist, muss endlich Fortschritte machen, nicht nur in Trippelschritten.

    Website der Koordinierungsstelle für die Erhaltung des schriftlichen Kulturguts http:/​/​schriftgutschuetzen.kek-spk.de/​

    Michael Knoche

  • 16. Juli 2018 — Qatar National Library – von Null auf Hundert

    Claudia Lux (zweite von links) mit Besuchern vor dem Gebäude der Qatar National Library

    Weitgehend unbemerkt von der Öffentlichkeit in der westlichen Hemisphäre wurde vor einigen Wochen in Doha eine bemerkenswerte neue Bibliothek eingeweiht – die Nationalbibliothek Katars. Sie liegt am Rande der Großstadt in der sogenannten Education City, wo die Nationaluniversität, aber auch zahlreiche internationale Hochschulen und Forschungseinrichtungen ihren Sitz haben und wo vor einigen Jahren noch öde Steinwüste war. Die Qatar National Library verfügt über eine Fläche von 46.000 qm, ist also etwa fünfmal größer als die Herzogin Anna Amalia Bibliothek. Architekt des spektakulären, rhombusförmigen Gebäudes mit silberfarbener Außenhaut ist Rem Koolhaas.

    Die Sammlung der Bibliothek umfasst schon bei der Eröffnung mehr als eine halbe Million Bücher in Englisch, Arabisch und anderen Sprachen, die, nach Fachgebieten geordnet, zum größeren Teil frei zugänglich in den Regalen stehen. Gleichzeitig wird mit beeindruckendem Tempo eine digitale Bibliothek aufgebaut, für die schon über 150 Nationallizenzen erworben wurden. Nationallizenz bedeutet in diesem Fall, dass jeder angemeldete Nutzer auch auf die elektronischen Ressourcen, die von den internationalen Verlagen teuer lizenziert wurden, von jedem Punkt des Landes, selbst von seiner Privatwohnung aus, zugreifen kann. Die digitale Bibliothek wurde schon einige Jahre vor der Fertigstellung des Gebäudes freigeschaltet und hat dazu geführt, dass schon im voraus mehrere zehntausend Leser registriert waren.

    Die Spezialsammlung zum kulturellen Erbe bildet einen eigenen besonders inszenierten Bereich des Gebäudes und zählt etwa 70.000 Objekte der arabischen und islamischen Zivilisation, darunter Handschriften, frühe gedruckte Bücher, historische Karten, Globen, Fotografien und wissenschaftliche Instrumente.

    Nur für die alten Bestände gab es Vorläufereinrichtungen. Die übrige Sammlung wurde erst in den letzten fünf, sechs Jahren zusammengetragen. Auch alle Dienstleistungen, die Organisationsstruktur, die personelle Besetzung wurden parallel zur Bauplanung realisiert. Diese gigantische Planungsleistung nötigt jedem, der das Ergebnis sieht – eine der modernsten und attraktivsten Bibliotheken überhaupt –, höchsten Respekt ab. Projektdirektorin des gewaltigen Unternehmens war von 2012 bis 2017 Claudia Lux, die frühere Generaldirektorin der Zentral- und Landesbibliothek Berlin und ehemalige Präsidentin des Weltverbandes der Bibliotheken IFLA.

    Es ist bemerkenswert, dass in unseren Tagen, wo einige Schlaumeier die Bibliotheken angesichts des Internets für obsolet erklären (zuletzt Pius Knüsel in der NZZ am Sonntag vom 7.7.2018), eine Bibliothek dieser Dimension neu gegründet wird. Die Geldgeber der Bibliothek sind davon überzeugt, dass die Ressource Wissen für die Gesellschaft der Zukunft eine immer wichtigere Rolle spielt, selbst in ihrem heute noch rohstoffreichen Land, und dass gerade eine Bibliothek der Motor des Wandels sein kann.

    Auch die Konzeption der Bibliothek ist bemerkenswert. Sie übernimmt neben den klassischen Aufgaben einer Nationalbibliothek zugleich Funktionen einer Forschungs-, Universitäts- und einer zentralen Stadtbibliothek mit Kinder- und Jugendabteilung. Eine solcherart integrierte Gesamtbibliothek hat es bisher noch nirgendwo gegeben, und die bibliothekarische Gemeinschaft sollte sehr genau studieren, wie das Experiment in Doha funktioniert.

    Noch etwas anderes ist interessant. Die Nationalbibliothek hat in den letzten Jahren zusammen mit der British Library eine große Digitalisierungskampagne durchgeführt. Die in London bisher nur grob erschlossenen Archivalien der Ostindien-Kompanie und anderer Institutionen der britischen Kolonialmacht am Golf wurden aufbereitet und nun zugänglich gemacht. Auch wertvolle arabische Handschriften des Mittelalters gehören zum Projekt. Damit erhalten die Nutzer per Open Access Zugriff auf wichtige Quellen der eigenen Geschichte, die ihnen bisher vorenthalten oder zumindest schwer erreichbar waren. Dieses Kooperationsprojekt zeigt einen Weg auf, Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten wieder in den wissenschaftlichen und kulturellen Diskurs des Herkunftslandes zurückzuführen, ohne auf die Verhandlungsergebnisse der großen Politik über die Rückgabe von Kulturgütern warten zu müssen.

    Man mag viele Gründe sehen, dem politischen Kurs von Katar mit seinen 2,7 Mio. Einwohnern, darunter 90 % Ausländer, kritisch gegenüber zu stehen (absolute Monarchie, Frauenrechte, Arbeitsbedingungen der fremdländischen Bauarbeiter, Vergabe der Fußballweltmeisterschaft 2022 usw.) Man muss Katar aber auch in dem streng islamischen Kontext seiner Nachbarländer sehen, aus dem es spürbar heraussticht und in dem es inzwischen sogar isoliert ist. Goethe jedenfalls hätte die Bibliotheksgründung gefallen. Er hat die Bibliotheksarbeit als das »friedlichste sittlichste Bildungsgeschäft« bezeichnet.

    Michael Knoche

  • 09. Juli 2018 — Biblioteca Apostolica Vaticana – die Büchertrutzburg

    Biblioteca Apostolica Vaticana – einen Spalt breit geöffnet

    Als Robert Darnton am 27. April 2016 in der Herzogin Anna Amalia Bibliothek seinen Vortrag Digitize, democratize hielt, führte er auch eine ganze Reihe von Bildern vor, die den Festungscharakter alter Bibliotheken eindrucksvoll belegten. Da waren mächtige Eisengittertore zu sehen, die den Bibliothekseingang abriegelten, abweisende Hinweisschilder, riesige Vorhangschlösser und dicke Mauern, auf denen zusätzlich noch verdrillte Drähte mit scharfkantigen Spitzen potentielle Einbrecher abschreckten.

    Die Biblioteca Apostolica Vaticana gehört zu den bestgesichertsten Bibliotheken der Welt. Hier liegen einige der kostbarsten Manuskripte unserer kulturellen Überlieferung, frühe Bibeltexte, z.B. der »Codex Vaticanus«, eine Abschrift von Dantes Göttlicher Komödie, illustriert von Sandro Botticelli, oder Teile der Biblioteca Palatina aus Heidelberg. Hier werden fast 2 Mio. Druckschriften, davon 800.000 vor 1900 erschienene Drucke, 100.000 Handschriften, 200.000 Autographen, 70.000 Karten und Stiche, sowie 300.000 Münzen und Medaillen aufbewahrt. Als Gründungsjahr – nach Vorläufern in Antike und Mittelalter – gilt 1475 (Papst Sixtus IV.).

    Der heutige Bibliotheksbau entstand gegen Ende des 16. Jahrhunderts und wurde 2007 bis 2010 umfassend saniert und mit neuester Technik ausgestattet. Er befindet sich in demselben Teil des Päpstlichen Palastes wie die Vatikanischen Museen und das Geheimarchiv. Der Zugang erfolgt nicht über den Petersplatz, sondern die Porta di SantAnna, über die der gesamte interne Betrieb des Vatikans abgewickelt wird. Von dort geht es weiter über den Cortile del Belvedere zur Bibliothekspforte (Abb.). Um ins Arkanum vorzudringen, muss man dreimal seinen Bibliotheksausweis vorzeigen.

    Besitzt man unglücklicherweise noch keine Tessera, wie die begehrte Benutzerkarte heißt, ist der Ablauf folgendermaßen: Man erklärt der Schweizer Wache sein Anliegen, wird dann zur Passkontrolle geschickt, wo das Anliegen erneut vorzutragen ist. Dort wird der Personalausweis kopiert und einbehalten, stattdessen erhält man einen vorläufigen Besucherausweis mit der Aufschrift »Biblioteca«. Mit diesem öffnen sich die weiteren Tore, bis man vor der Segreteria steht. Dort wird man nach einer kleinen Wartezeit vorgelassen, erklärt, was man in der Bibliothek forschen will, zeigt sein Empfehlungsschreiben vor, das von einer anerkannten wissenschaftlichen Einrichtung ausgestellt sein muss, ggf. auch die Doktorurkunde und füllt einen Antrag aus. Der kopierte Personalausweis liegt dem Zulassungsbüro bereits online vor. Was noch fehlt, ist ein Foto, das an Ort und Stelle von der freundlichen Bibliothekarin selber gemacht wird.

    Dann darf man sich die Tessera wie einen Orden um den Hals hängen. Das muss man allerdings auch, weil es sich um eine Magnetkarte handelt, mit der man ständig weitere Türen öffnen oder Vorgänge abschließen muss. Selbst der Garderobenschrank öffnet sich nur mit der Tessera. Gleichzeitig lässt sich so jede Bewegung im Gebäude, das auch mittels Videokameras überwacht wird, dokumentieren. Im 3. Stockwerk angekommen, hat man kaum Zeit, die fast achtzig Meter lange Sala Leonina zu bewundern, denn man muss sich (erstaunlicherweise: handschriftlich) in eine Liste eintragen und bekommt einen von etwa 120 Leseplätzen zugewiesen. Es sind nur etwa 15 Leseplätze besetzt.

    Der Grund für die genaue Festlegung des Ortes ist ein anderer: Auf dem altertümlichen Lesetisch aus Eichenholz, an dem vier Personen bequem nebeneinander sitzen können, liegen jeweils 6 Pappkartons mit der Leseplatznummer aus, die man als Platzhalter für die aus dem Bücherbestand im Lesesaal entnommenen Werke verwenden kann. Selber zurückstellen darf man die Bücher nicht. Dadurch dass der Name des Lesers mit seinem Platz verknüpft ist, kann die Aufsicht im Zweifelsfall nachprüfen, ob alles seine Ordnung gehabt hat. Wenn man die sechs Kärtchen für sechs Bücher verwendet hat, kann man Feierabend machen.

    Oder man betrachtet einmal in Ruhe den schönen Saal mit seinem Marmorfußboden, den hohen Fenstern, freskierten Decken und imposanten Kardinalsportraits auf der einen Seite und den doppelstöckigen Buchregalen mit schätzungsweise 30.000 Bänden Handbuchbestand auf der anderen Seite. Man kann aber auch Bücher aus den Magazinen bestellen. Der Besucher aus Germania wollte sich erklären lassen, wie die elektronische Bestellung funktioniert und löste beiderseits Verwirrung aus, was er zunächst seinen Sprachkenntnissen zuschrieb, bis er begriff, dass trotz Online-Katalog und modernster RFID-Technik ein normaler Leihzettel mit vier Durchschlägen handschriftlich auszufüllen war. Pro Tag werden fünf Bestellungen auf magazinierte Literatur angenommen, davon dürfen nur drei gleichzeitig benutzt werden.

    Insgesamt umfasst das Regolamento für die Benutzung sechs engbedruckte Seiten. Man liest mit Genugtuung, dass der Gebrauch von Mobiltelefonen untersagt ist, Essen und Trinken sowieso, aber auch, dass die Leser angemessene Kleidung tragen müssen. Bücher werden nicht aus dem Haus verliehen, es sei denn, man ist Papst. Leider ist auch Fotografieren verboten. An den Wochenenden und zwei Monate im Sommer ist die Bibliothek ganz geschlossen. Ein eigenes Kapitel behandelt die Sanktionen, die der böswillige oder nur widerspenstige oder allzu trottelige Bibliotheksbenutzer zu erwarten hat.

    Wie auf dem Foto zu sehen ist, ist das Portal der Vatikanischen Bibliothek nur einen Spalt breit geöffnet. Unverkennbar sind die Ansätze, den Lesern die Arbeit im Haus zu erleichtern und den Aufenthalt konfliktfrei zu gestalten. Aber manche Regelungen erinnern an die Zeit, als die Bibliothek nur den Mitgliedern der Kurie zur Verfügung stand und ein weltliches Wesen fast nie in ein Buch schauen durfte. Die heutige Öffnung für die Gelehrtenwelt ist anscheinend nur mit einem Übermaß an Kontrollmechanismen zu erkaufen. Doch nach der Wiedereröffnung im Jahr 2010 sind die Benutzungszahlen rapide gesunken.

    Es handelt sich bei dieser Büchertrutzburg freilich um eine der größten Schatzkammern für Schriftgut überhaupt und die vielleicht letzte Bibliothek, die ihr Selbstverständnis ausschließlich aus ihrem großartigen Bestand ableitet. Das hat auch etwas Erfrischendes in einer Zeit, in der sich Bibliotheken ganz dem Servicegedanken verschrieben haben und konzeptionslos jedem Wunsch ihrer Benutzer hingeben.

    Michael Knoche