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  • 28. Mai 2018 — Die europäische Bibliothek in Rom und ein schöner Traum

    Biblioteca Europea

    Welch schöne Idee – eine Biblioteca Europea im Zentrum Roms! Elf Einrichtungen der auswärtigen Kulturarbeit von der Ungarischen Akademie über das Schweizer Kulturinstitut bis zum Goethe-Institut nebst Repräsentanzen der Europäischen Kommission und des Europäischen Parlaments haben sich 2006 zusammengetan, um eine vielsprachige Bibliothek für die Bürger Roms zu fördern. Bücher, CDs, Videos, Kinder- und Jugendliteratur, Tageszeitungen (davon eine deutsche) – insgesamt etwa 30.000 Medien, davon schätzungsweise etwas mehr als die Hälfte in italienischer Sprache bzw. Übersetzung, plus Internetarbeitsplätze stehen bereit. Die Benutzung ist kostenlos.

    Betrieben wird die Bibliothek von der Kommune Rom. Das gut geeignete und schön gelegene Gebäude befindet sich auf dem Gelände des Goethe-Instituts in der Via Savoia 13 in der Nähe der Villa Borghese. Das Goethe-Institut hat aber nicht nur den Ort zur Verfügung gestellt, sondern auch zum Grundbestand viel beigesteuert, nämlich einen Teil ihrer früher an dieser Stelle betriebenen eigenen Bibliothek.

    Der Leserzuspruch scheint das Konzept zu bestätigen: An einem Mittwochmorgen im Mai um 11 Uhr ist fast keiner der 66 Leseplätze mehr unbesetzt. Sehr viele junge Leute sind da. Alle vier Bibliothekarinnen sind stark beschäftigt. Man hört viele halblaute Stimmen, aber das beeinträchtigt die insgesamt emsige Studienatmosphäre nicht.

    Schaut man genauer hin, was die vielen Leser eigentlich machen, so sieht man Erstaunliches: Alle schreiben in eigene Unterlagen oder tippen etwas in ihr Notebook oder befragen das Smartphone. Keiner liest, zumindest kein Buch oder ein anderes Medium aus der Bibliothek. Es scheint sich um Studenten zu handeln, die sich in großer Zahl diesen Ort erobert haben. Die Hochschulen der Stadt sind nicht in der Lage, ihren Studenten ausreichende Studien- und Bibliotheksplätze anzubieten. So hat die Bibliothek zwar eine beeindruckend große Benutzerschaft, die aber mit ihrem Medienangebot nicht viel anzufangen weiß.

    Die engagierte Leiterin der Bibliothek berichtet, dass alle Personal- und Sachkosten außer für das Gebäude heute von der Kommune getragen werden. Deren Bibliotheksausgaben sind angesichts ihres hohen Verschuldungsgrades beschränkt. Von dem ambitionierten europäischen Kulturkonsortium ist nicht viel übrig geblieben. Die Biblioteca Europea droht, eine von 39 Stadtteilbibliotheken Roms zu werden.

    Auf der Website des Goethe-Instituts Rom wird die Biblioteca Europea dreimal so ausführlich vorgestellt, wie dies in der eigenen Homepage geschieht, und als starke Partnerin in hohen Tönen gelobt. Aber es hört sich an wie das Pfeifen im Walde. Denn wenn diese Bibliotheksidee nicht funktionierte, wäre auch das Bibliothekskonzept des Goethe-Instituts gescheitert. In der großen Finanzkrise der Goethe-Institute 2004/​2005 hat man sich zu massiven Kürzungen genötigt gesehen und die bestehenden Ausleihbibliotheken an allen sieben Standorten in Italien (Triest, Turin, Genua, Mailand, Rom, Neapel und Palermo) geschlossen. Zum Ausgleich ist man neue Kooperationen eingegangen, in Rom eben mit dem verheißungsvollen Gemeinschaftsprojekt.

    Ist es nicht an der Zeit, über die Bibliotheken der Goethe-Institute neu nachzudenken, zumindest über die der europäischen Goethe-Institute? Europa galt aus der Binnenperspektive der Münchener Goethe-Zentrale und des Auswärtigen Amts immer als sichere Bank, die notfalls auch eine Zeitlang auf drei Beinen stehen konnte. Die meisten Aufgaben der aus Deutschland entsandten Fachkräfte, glaubte man, könnten fortan auch Ortskräfte erledigen. Kooperationen bis zur Unkenntlichkeit waren das Rezept der Stunde. Die eingesparten Mittel wurden in die Vermittlungsarbeit in anderen, aufstrebenden Regionen der Welt gesteckt. Jetzt sehen wir in vielen Nachbarländern Populismus, Europafeindlichkeit und massiven Deutschenhass wachsen und in Rom zu gemeinschaftsbildenden Faktoren der tonangebenden Parteien werden.

    In dieser Situation scheint mir das alte Konzept einer institutseigenen Bibliothek durchaus einer erneuten Erprobung wert zu sein. Es geht ja nicht um bestimmte Bücher und Medien, die sich ein versierter Zeitgenosse im Internetzeitalter auch schon irgendwie anders beschaffen könnte. (Aber tut er das auch?) Es geht um das profilierte Gesamtangebot, das einen eigenen Sog auslöst. Es geht um die Bibliothek als Raum, in den man sich zwanglos hineinbegeben kann und in dem etwas geschieht. Und ein bisschen geht es auch um die Möglichkeit der Erkennbarkeit unseres Landes.

    Aber erreicht man damit die Menschen, die ein schlechtes Bild von Deutschland und Europa haben? Das werden die Skeptiker fragen. Nein, aber man versorgt alle aufgeschlossenen Menschen mit den Informationen, die sie in ihrem Alltag und ihren politischen Diskursen brauchen. Und gibt ihnen einen Ort. Ein Traum?

    Michael Knoche z. Z. Rom