Abschied 2016 (Foto: Welz, Klassik Stiftung Weimar)

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  • 11. März 2019 — Bitte melden Sie Ihren Austritt! Eine Studie über die Goethe-Gesellschaft im NS-Staat

    Theaterplatz in Weimar mit dem eingerüsteten Goethe- und Schiller-Denkmal (Foto: Schäfer, Stadtarchiv Weimar)

    Die Straße, an der das Weimarer Goethe- und-Schiller-Archiv liegt, hieß bis vor kurzem Hans-Wahl-Straße. Hans Wahl, noch vom Großherzog ernannt, war Archivdirektor über vier Gesellschaftssysteme hinweg bis zu seinem Tod 1949. Außerdem war er das einflussreichste Vorstandsmitglied der Goethe-Gesellschaft und Herausgeber ihrer Zeitschrift. 2016 fasste der Weimarer Stadtrat einen Umbenennungsbeschluss. Seitdem lautet die Anschrift des Archivs wie früher: »Über dem Kegeltore«.

    Es waren die historischen Arbeiten der jüngsten Zeit, die zu dem – übrigens knappen – Stadtratsbeschluss geführt haben. Wer Zweifel an seiner Richtigkeit gehabt haben sollte, kann sie nun nach Lektüre der grundlegenden Untersuchung von Daniel Wilson über die Goethe-Gesellschaft in der Zeit des Dritten Reiches fahren lassen. Auch früher schon konnte niemand die Nähe von Hans Wahl zu den Regierenden, vor allem zu den Nationalsozialisten übersehen. 1937 wurde er Mitglied der Partei. Seine Fürsprecher entschuldigten sein Verhalten als unvermeidliches Zugeständnis, um ein höheres Ziel zu erreichen: die Weimarer Goethe-Stätten und die Goethe-Gesellschaft unversehrt durch die Zeiten zu bringen. Nun wird klar, dass weder der Vizepräsident Hans Wahl noch die Präsidenten Julius Petersen und sein Nachfolger Anton Kippenberg lediglich im Sinn hatten, den humanen Goethe vor Partei und Staat in Schutz zu nehmen.

    Vielmehr haben sie Goethe so tief braun eingefärbt, dass er in das Weltbild von Hitler, Heß, Goebbels und Sauckel perfekt hineinpasste. Sie präsentierten Goethe als Nationalisten, Judenfeind und Propheten der Hitlerbewegung. Der Preis war hoch: Goethe, der Humanist, wurde verraten. Die einmal aufgetragene Farbe erwies sich als schwer wieder abzukratzen.

    Die Auswertung der 200 Akten der Goethe-Gesellschaft im Goethe- und-Schiller-Archiv und diverser anderer Bestände etwa in Marbach und Berlin, die Daniel Wilson als erster in diesem Umfang vorgenommen hat, zeigt, dass die Vorstandsmitglieder der Goethe-Gesellschaft ihren braun eingefärbten Goethe nicht nur nach außen vertreten haben. Ihre interne Kommunikation und ihre Korrespondenz offenbart bei allen persönlichen Unterschieden keine andere Einstellung. Allerdings waren sie geschickt darauf bedacht, sich nicht in ihre Angelegenheiten hineinreden zu lassen, und hatten durchaus ihre Kontroversen mit Vertretern des Staates oder der Partei.

    So ist es der Goethe-Gesellschaft durch die Integration prominenter Nationalsozialisten in den Vorstand gelungen, die Selbständigkeit zu wahren und die Einordnung in einen größeren Verband, etwa die NS-Kulturgemeinde, zu vermeiden. Hinsichtlich der »Judenfrage« verhielt man sich den Machthabern gegenüber weniger gefügig als vergleichbare Vereine wie etwa die Kleist-Gesellschaft. Die Goethe-Gesellschaft hatte auf Grund ihrer zahlreichen ausländischen Mitglieder eine privilegierte Stellung. Bei offenen Maßnahmen gegen Juden in ihren Reihen war ein Prestigeverlust im Ausland zu befürchten, den sowohl Regime wie Verein vermeiden wollten. Doch ging man in den Ortsvereinigungen, in denen sich ein großer Teil des Vereinslebens abspielte, manches Mal rabiater vor. So wurden in Berlin der Antiquar Fritz Homeyer, der Lehrer Kurt Levinstein, der Islamwissenschaftler Arthur Liebert und der Journalist Max Osborn aus dem dortigen Vorstand ausgeschlossen. Die Muttergesellschaft wurde erst nach den Pogromen 1938 aktiv, auf rechtlich zweifelhafter Grundlage. Man erfand eine »Ausführungsbestimmung« zu § 5 der Satzung und bat »diejenigen unserer Mitglieder, die diese Voraussetzungen nicht erfüllen, uns sofort ihren Austritt zu melden«.

    Immerhin zählte man Anfang 1939 noch 41 jüdische Mitglieder. Wenn die Goethe-Gesellschaft nach dem Krieg stolz darauf verwies, dass sie ihre Satzung nicht verändert habe, darf die Praxis der Ortsvereine und das satzungswidrige Verhalten ab 1938 nicht unterschlagen werden. Die Deutsche Shakespeare-Gesellschaft unternahm zum Beispiel gar nichts gegen ihre jüdischen Mitglieder.

    W. Daniel Wilson, Germanist amerikanischer Herkunft mit Professur in London, gibt in diesen Passagen des Buches den Verfolgten eine Stimme, die ihnen in den bisherigen Darstellungen gefehlt hat. Zu seinen weiteren Verdiensten gehören die Analyse des zunächst sehr schwankenden Goethebildes der NS-Ideologen und die Einbeziehung der auswärtigen Kulturpolitik. So ist eine spannend zu lesende Darstellung entstanden, die viele neue Zusammenhänge sichtbar macht.

    Und doch kann dies nicht die abschließende Studie zum Thema sein. Das kecke Urteil, dass »einiges am braunen Goethebild Hand und Fuß hatte«, Goethe also tatsächlich anti-jüdisch eingestellt war, entspringt der schon öfter erprobten Provokationslust des Autors und ist gänzlich überzogen. Aber das betrifft nicht den Kern seiner Untersuchung. Gravierender ist: Wilson interessiert sich wenig für die Motive und Handlungsspielräume seiner Protagonisten. Schnell spricht für ihn aus einem Dokument, »eine regelrechte Gier, sich dem Regime anzupassen«.

    Aber statt einer moralischen Beurteilung aus sicherem historischen Abstand erführe man gern, an welcher Stelle der Handlungskette ein andere Option möglich gewesen wäre. Ein bisschen weniger Textinterpretation und ein bisschen mehr historische Konstellationsanalyse würden verstehen helfen, wie sich eine literarische Gesellschaft unter den Bedingungen einer Diktatur besser hätte bewähren können.

    W. Daniel Wilson: Der faustische Pakt. Goethe- und die Goethe-Gesellschaft im Dritten Reich. DTV, München 2018. 367 Seiten, 28 Euro.

    Zuerst in: Süddeutsche Zeitung vom 6.3.2019, S. 12.

    Michael Knoche