Abschied 2016 (Foto: Welz, Klassik Stiftung Weimar)

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  • 20. August 2018 — Thüringer Literaturlandschaft

    Schloss Kromsdorf mit Büsten im Garten (hier Skanderbeg?)

    Angenommen, Herr K. muss zum Urologen, kommt ins Wartezimmer und stellt fest, da sitzen schon zwölf Patienten. Wenn Herr K. dann noch merkt, dass er vergessen hat, sich für die Wartezeit eine vernünftige Lektüre einzustecken, droht eine ernsthafte Krise. Doch es gibt einen letzten Ausweg für den modernen Menschen: Er kann mit seinem Handy oder Tablet spielen. In dieser Situation empfehle ich, einmal die Website des Literaturlandes Thüringen aufzurufen. Man vergisst sofort seine Niere, das Wartezimmer, die Zeit.

    Literaturland? Der Begriff wird hier wörtlich genommen, denn alle Informationen sind auf einer Landkarte geographisch verortet. Man kann sich also statt für einzelne Themen gleich für einen bestimmten Ort mit seinen literarischen Bezügen interessieren. Bei Weimar ist das sinnlos, denn hier ballen sich die Informationen so zusammen, dass man den Überblick verliert. Aber im Fall von Kromsdorf ist es schon sehr aufschlussreich sich anzuschauen, warum diese kleine Gemeinde ein Literaturort sein soll. Da liest man dann etwas über einen gewissen Gaspard Corneille Mortaigne de Potelles (1609–47), einem Mitglied der »Fruchtbringenden Gesellschaft«, und seinem Sohn Johann Theodor, der den Schlossgarten mit 64 Büsten berühmter Personen der Weltgeschichte ausgestattet hat (32 aus dem Orient, 32 aus dem Okzident). In der Erzählung »Die Großfürstin und der Rebell« (2002) von Albrecht Börner gehört der Park zu den Schauplätzen. Aha.

    Geographisch gegliedert sind außerdem die Spezialseiten zu Dichtergräbern in Thüringen, zu Literarischen Denkmalen, zu Museen und Gedenkstätten und zu zwei Friedhöfen, die im Hinblick auf tote Dichter so ergiebig sind, dass sie einzeln vorgestellt werden müssen: Der Historische Friedhof Weimar und der Nordfriedhof Jena. Wer also vergessen haben sollte, wo genau Christian August Vulpius begraben ist, findet hier rasche Belehrung.

    Noch interessanter als der Einstieg über die Orte ist der Einstieg über Themen. Hier weiß man gar nicht, wo man anfangen soll: Bei der Reihe Gelesen & Wiedergelesen vielleicht? Dort finden sich Rezensionen zu aktuellen Titeln und klassischen Texten aus und über Thüringen. Auf der Seite Thüringen im literarischen Spiegel liest man, was Wilhelm von Kügelgen auf dem Weg nach Hummelshain so alles erlebt hat, wo Hans Fallada die Sense schwang und andere literarische Kabinettstückchen. Buchhändlerinnen und Buchhändler im Gespräch erlaubt Einblicke in die aktuelle Situation der Literaturvermittlungsarbeit in der Provinz.

    In verschiedenen Epochenschnitten werden Einzelaspekte der Thüringer Literaturgeschichte beleuchtet. Dort kann man über Gabriele Reuter in Weimar lesen (Annette Seemann), Jakob van Hoddis in Thüringen (Wulf Kirsten), Pier Paolo Pasolinis Besuch der »Weimar-Festspiele der deutschen Jugend« 1941 (Wolfgang Haak) oder über Wolfgang Hilbigs Spuren in Meuselwitz (Volker Hanisch). An die exzellent recherchierten Informationen, die oft nur an dieser Stelle publiziert sind, schließt sich ein Spaziergang an die jeweiligen Schauplätze an.

    Auf der Seite Literatur und Wandern sind zehn Texte von Schriftstellern aus dem Jahr 2017 versammelt. Jan Röhnert ist z.B. die 40 km von Weimar nach Rudolstadt abgelaufen – »Unterwegs über Großkochberg, mit Goethe ohne Charlotte«.

    Die Rubrik Nachrufe & Gedenken enthält u.a. bewegende Erinnerungen an den vor ein paar Monaten verstorbenen Hans Arnfrid Astel von Christoph Schmitz-Scholemann, der den Dichterkollegen einmal im Omnibus auf der Fahrt nach Rudolstadt (schon wieder! ein sehr literarischer Ort!) kennengelernt hat. Von Astel, der in Weimar aufgewachsen ist, stammt das unvergessliche Gedicht:

    Die Amsel fliegt auf.
    Der Zweig winkt ihr nach.

    Neben dem nützlichen und gut gepflegten Veranstaltungskalender (samt Archiv) stellt die Personensuche die vierte Großrubrik dar. Hier können 400 Persönlichkeiten aus Vergangenheit und Gegenwart, die etwas mit Thüringens Literatur zu tun haben, aufgerufen werden. Mit den bio-bibliographischen Angaben verbunden sind oft Originaltexte der Autoren, wie etwa Peter Gülkes Liebeserklärung »Auf Weimarer Parkwegen«.

    Trotzdem findet man hier nicht alle Thüringer Gegenwartsautoren. Das Autorenlexikon auf der Seite des Thüringer Literaturrates scheint kompletter zu sein. Dort entdeckt man auch die wunderbare Audiobibliothek, eine allmählich wachsende Anthologie zeitgenössischer Lyrik und Prosa aus Thüringen, gesprochen von den Schriftstellern selber. Sie würde auch auf die Seite der Thüringer Literaturandschaft passen.

    Beide Websites werden vom Thüringer Literaturrat e.V. betrieben, dessen Vorsitzender Christoph Schmitz-Scholemann ist. Derjenige, der die Seiten mit Inhalt füllt, ist Jens Kirsten, den man dafür nicht genug loben und preisen kann. Die Seite des Literaturlandes Thüringen ist sensationell gut gemacht und steht auch im bundesweiten Vergleich an der Spitze. Die Wartezeit beim Urologen kann gar nicht lang genug sein.

    http:/​/​www.literaturland-thueringen.de/​

    Michael Knoche